Gebet: Von ganzem Herzen lieben?
Guter Gott:
Ich danke Dir als meinem Schöpfer für jeden neuen Tag und
für all das Gute, das ich erleben und erfahren darf.
Ich danke Dir jeden Tag aufs neue für die herrliche Natur,
für die Blumen der Felder, für das Blühen der Bäume und Sträucher, für das
Erwachen Deiner Schöpfung. Besonders aber danke ich Dir, dass Du mir liebe und
gute Menschen zur Seite gestellt hast und ich vielen begegnen durfte.
Für all das Gute danke ich Dir und will Dich loben und
preisen.
Nun aber lautet das christliche Hauptgebot:
"Du sollst den HERRN, Deinen GOTT, lieben mit ganzem
Herzen und mit ganzer Seele, mit all Deinen Gedanken und mit all Deiner
Kraft."
Ein zweites Gebot kommt diesem gleich: "Du sollst Deinen Nächsten lieben
wie Dich selbst."
Lieber Gott: Ich erkenne Dich ja als meinen Herrn und
Gebieter an, da Du mein Schöpfer bist. Ich danke Dir auch für all das Gute, das
ich von Dir empfangen habe.
Aber ich frage mich immer öfter: Kann ich Dich lieben, kann
ich jemand lieben, den ich nicht kenne? Kann ich jemand lieben, von dem ich nur
vieles gehört, den ich aber niemals gesehen habe? Liebe bedarf eines
Gegenübers. Du bist zwar als mein Schöpfer mein Gegenüber. Ich will und kann
daran glauben, dass Du mich als Dein Geschöpf liebst, sonst hättest Du mich
nicht geschaffen.
Aber wie soll ich Dich, großer Gott, lieben, wirklich lieb
haben, wenn Du mir doch so ferne bist und so unbekannt? Zwar hat Dein Sohn, als
er hier auf Erden weilte, von Dir und Deiner Liebe zu uns Menschen gesprochen.
Das ist aber fast zweitausend Jahre her, und ich lebe heute!
Je älter ich werde, je mehr ich darüber nachdenke, desto
mehr frage ich mich:
"Ist es möglich, GOTT oder jemand zu lieben, den ich
nicht kenne?"
Weißt Du: Früher hatte ich auch so meine Schwierigkeiten mit
dem Singen des Liedes:
"Ich will Dich lieben, meine Stärke."
Kann ich Dich nicht lieben, weil ich nicht glauben oder
vertrauen kann?
Glauben heißt doch im wesentlichen: vertrauen! Und vertrauen
tue ich dir doch mächtig! Ich weiß, dass Du mich liebst. Du hast mich nicht
geschaffen, um mich der Vernichtung preiszugeben. Du willst, dass ich lebe und
glücklich bin.
Aber all dieses Vertrauen weckt bei mir noch keine
überschäumende Liebe zu Dir; Du bist mir so unendlich fern, wenngleich ich auch
an Deine Allgegenwart glaube!
Ist das so entsetzlich, wenn ich Dich nicht so "von
ganzem Herzen" lieben kann, wie es in der Schrift steht?
Ich danke Dir, lobe und preise Dich, ehre Dich als meinen
Herrn und Gott! Aber lieben, ist das überhaupt möglich? Vermag ich überhaupt zu
ermessen, was das heißt? Du bist so unendlich groß, ich bin so entsetzlich
klein! Hilf mir, o Gott, es zu begreifen, zumindest zu erahnen!
Wie steht es mit dem zweiten Gebot, dem Gebot der
Nächstenliebe? Wer ist hier mein Nächster? Und wie soll ich meinen Nächsten
lieben, wenn ich ihn nicht kenne? Und, guter Gott, was heißt hier: "wie
Dich selbst"?
Lieben kann man doch nur das, was man gern hat und annimmt!
Kann ich mich so lieben, wie Du mich geschaffen hast?
Gewiss, guter Gott, ich will nicht undankbar sein. Du hast mich viel Gutes
trotz allem erfahren lassen. Aber mich lieben, in diesem Zustand? Das
übersteigt mein Fassungsvermögen! Liebe setzt doch Annahme voraus! Und 'wenn
ich mich so nicht annehmen kann, wie Du mich geschaffen hast, wie soll ich mich
dann lieben?
Und den Nächsten lieben, heißt doch konsequent, ihn erst
einmal annehmen, so wie er ist, wie Du ihn erschaffen hast, mit all seinen
Fehlern und Schwächen! Ist das nicht ein bisschen zuviel verlangt, wenn mich
mein Nächster überhaupt nicht leiden kann?
Also weißt Du, lieber Gott, mit dem Gebot der Gottesliebe
und der Nächstenliebe hast Du mir etwas "Schönes" aufgehalst! Wie
soll ich damit fertig werden? Und was machst du mit mir, wenn ich dereinst vor
Dir stehe? Kannst Du mich dann noch lieben?
© Heinz Pangels, 2003