"Und jesus weinte"
Dieser Text ist überaus kurz, besteht aus drei Wörtchen;
aber er ist bei all seiner Kürze so vielsagend und bezeichnend, dass ihr, so
Ich euch diesen Text nur einigermaßen auseinandergesetzt darstellen würde, eine
ganze Welt voll Bücher zu schreiben hättet. Seine volle Enthüllung aber werdet
ihr wohl in Ewigkeit nicht in ihrer Volltiefe zu fassen imstande sein!
Zahllose Male steht in der Schrift das Bindewort ‚und'; doch auf keinem Platze
verbindet es so viel wie hier; denn hier verbindet es zwei unendliche Dinge,
nämlich die unendliche Liebe und die unendliche Weisheit, Kraft und Macht
Gottes in Eines. Denn Jesus ist die Weisheit, die Macht und Kraft und somit der
Gewalthaber über alles, was da geistig und naturmäßig die Ewigkeit und
Unendlichkeit erfüllt.
Dieser Jesus aber weinte. Wie und warum denn? Weil Er mit dem Vater und mit der
ewigen Liebe Eins ward in der Fülle. Denn einst hieß es bei Moses, als er
verlangte, Gott zu sehen: "Gott kann niemand sehen und leben
zugleich!" In Jesus aber sahen viele Gott, und Er ward ihr Leben; und sie
starben nicht, darum sie Ihn sahen.
Zu Mosis Zeiten weinte die Gottheit nicht; aber Sie richtete zu Tode die
Übertreter des Gesetzes, und niemand ward erweckt, der einmal dem Tode verfiel.
Hier war dieselbe Gottheit; aber Sie hielt nicht mehr in Ihrem unerforschlichen
Zentrum Ihre Liebe und Erbarmung verborgen, sondern Sie weinte und erregte Sich
dann und löste die Bande des Todes an dem, der im Grabe moderte.
Verstehet ihr nun etwas, was das Weinen des Jesu hier bedeutet? - Das Weinen
bedeutet hier ein unendlich tiefes Erbarmen der unendlichen Liebe in Gott!
Über wen erbarmt Sie Sich? - Über den schon vier Tage im Grabe Modernden.
Wer von euch hat denn soviel Weisheit, um zu fassen dies endloser Bedeutung
vollste Bild? Meinet ihr, Jesus tat hier nur ein örtliches Wunder, um dadurch
fürs erste den zwei trauernden Schwestern ihren vielgeliebten Bruder
wiederzugeben, und fürs zweite, um dadurch den Juden einen Beweis zu liefern,
wie vor Ihm nie jemand solches tat?
O sehet, das sind ganz unbedeutende Nebenumstände; denn fürs erste hatte Jesus
schon vorher Wundertaten in großer Genüge ausgeübt, die mit dieser ganz gleich
gewichtig waren; was aber die Tröstung der beiden Schwestern betrifft, so wäre
Er sicher nicht verlegen gewesen, Er, der aller Menschen Herzen in Seiner Hand
hält, sie mit einem Blick, ja mit einem leisesten Wink selbst also seligst zu
machen, dass sie des verstorbenen Bruders nicht leichtlich wieder trauernd,
sondern jubelnd nur gedacht hätten!
Das war sonach nicht der Hauptgrund; was denn aber? Ja, darin liegt die
eigentliche für euch nicht erfassbare Tiefe dieser Tat Gottes! Ich kann sie
euch nur durch entfernte Winke andeuten, aber nicht vollends erläutern, indem
ein Volllicht in dieser Sache euch das Leben kosten würde. Denn eben bei dieser
Tat heißt es ja, dass sie geschieht, auf dass die Herrlichkeit des Vaters im
Sohne offenbar werde.
Was stellen die zwei trauernden Schwestern vor, die Martha und die Maria? Sie
sind Bilder der Vor- und Nachzeit; das eine mehr äußerer, also vorbildender,
das andere mehr innerer und somit geistiger, in sich selbst der Wahrheit voller
Art. Im weiter umfassenden Sinne stellen sie unter der ‚Martha' die ganze
naturmüßige Schöpfung und unter der ‚Maria' alle himmlisch-geistige Schöpfung
dar. - Sehet, das sind die zwei trauernden Schwestern!
Um wen trauern sie denn? - Um einen Bruder, der vier gar lange Tage schon im
Grabe modert. Die vier Tage bezeichnen vier Schöpfungszustände.
Wer ist nun der Bruder? Doch von hier nichts mehr weiter!!! - Wer von euch nur
ein Scherflein Weisheit besitzt, der mag rechnen; aber eine nähere Kundgabe von
Mir aus wäre lebensgefährlich!
Ihr möget aber aus dem Gesagten immer so viel entnehmen, eine wie große Tiefe
und welche Unerforschlichkeit in den drei Worten "Und Jesus weinte!"
liegt. Wenn ihr bedenket, wer Jesus ist, so werdet ihr es auch wenigstens zu
ahnen vermögen, dass Seine Tränen etwas ganz anderes und Größeres bedeuten als
die einer halberblindeten Romanleserin. Das Gemüt Jesu war kein durch Lektüre
reizbar gewordenes, - sondern das war die ewige Liebe Selbst als Vater im
Sohne!
Als nachzuahmendes Beispiel aber zeigen sie (die Tränen), dass auch ihr aus der
wahren Lebenstiefe heraus barmherzig sein sollet; denn eine durch Romanlektüre
bewirkte Weichherzigkeit und Erbarmung hat bei Mir durchaus keinen Wert und ist
um nicht vieles besser als eine Blindliebe und Heirat auf dem Theater. Solchen
‚barmherzigen' Menschen will Ich einst auch den Lohn geben, der der Grund ihrer
Barmherzigkeit war. Sie sollen auch jenseits große Bibliotheken von zahllosen
Romanen antreffen und werden nicht eher aus denselben gelangen, bis sie es
lebendig an sich erfahren werden, dass eine geschriebene Liebe und ein
geschriebenes Leben durchaus keine Liebe und kein Leben sind.
Wer nicht aus Mir liebt und nicht von Mir lernt, der tut alles, was er tut, wie
ein Toter und wird nicht eher seinem Grabe entsteigen, als bis Jesus nicht über
seinem Grabe weinen wird. - Verstehet solches wohl; es ist eine große Tiefe
darinnen, und so sei das Leben euer Amen!
Aus "Schrifttexterklärungen", von Jakob Lorber